Markus Lupa

Das gelbe Licht

– Fortsetzung –

So fing es an – mit einer Laune der Natur. Das war die offizielle Erklärung für das Chaos, das sich anbahnte. In den ersten Tagen kämpfte die Stadt tapfer gegen die Schneemassen an: Die aus dem letzten milden Winter prall gefüllten Streusalz-Silos gingen schneller zur Neige als die Biervorräte auf dem Oktoberfest, mehrere hundert Räumfahrzeuge krochen Schnee schiebend über die Straßen, wo zu beiden Seiten eine weiße Wand emporwuchs, und die aus ganz NRW zusammengezogenen Helfer des Katastrophenschutzes waren Tag und Nacht im Einsatz. Doch dieser Kampf war aussichtslos. Wie der Deutsche Wetterdienst meldete, fielen allein am 9. Dezember rund 5 Millionen Tonnen Schnee auf Dortmund. Am 7. Tag, es war der 12. Dezember 2015, kapitulierte die Stadt. Zu welchen Bedingungen, das verkündete der Oberbürgermeister abends in einer Sondersendung der Tagesschau: Ab sofort herrschte in Dortmund der Ausnahmezustand.

Die Schulen wurden vorübergehend geschlossen, Behörden ohne Publikumsverkehr stellten ihre Arbeit ein. Nach hunderten von Verkehrsunfällen verhängte die Stadtverwaltung bis auf weiteres ein Fahrverbot für Privatautos. Eine Sondergenehmigung konnte in dringenden Fällen beim zentralen Straßenverkehrsamt beantragt werden. Nicht betroffen von diesem Verbot waren Dienstwagen – Taxis, Handwerker und Freiberufler auf dem Weg zum Kunden, Unternehmen, die Waren auslieferten. Schneeketten waren Pflicht. Wer sich in der Stadt fortbewegen wollte, konnte das am sichersten und schnellsten mit der U-Bahn tun, die unterirdisch nach geändertem Fahrplan verkehrte. An der letzten Station, bevor sie sich wurmartig an die Oberfläche bohrte, übernahmen Busse die Fahrgäste im Zwei-Stunden-Takt. Fahrgäste in höher gelegenen Stadtgebieten wurden mit Schneeraupen aus Bayern befördert, die für den Personentransport umgerüstet worden waren.

An alle Einwohner hatte der Oberbürgermeister die dringende Bitte gerichtet, bei den Räumungsarbeiten zu helfen und sich der Aktion „Rettet die Stadt“ anzuschließen. Ganz ohne Bürokratie ging das nicht. Freiwillige sollten sich bei der zentralen Einsatzleitung im Rathaus oder über eine Internetplattform registrieren lassen und wurden in dem Stadtteil, in dem sie wohnten, einer von mehreren Kolonnen zugewiesen. Ihre Hilfe, das hatte der OB eindringlich und mit ernster Miene verkündet, sei lebenswichtig, damit die Stadt nicht im Schnee versinkt. War es wirklich so dramatisch? Ja, das war es, wenn die mathematischen Berechnungen der bei anhaltendem Schneefall auf die Stadt niedergehenden Schneemassen stimmten. Ungeheure Mengen, die allein von den Helfern des Katastrophenschutzes nicht bewältigt werden konnten. Und was hieß schon bewältigen? Komplett geräumt wurden nur noch die drei großen Bundesstraßen, die das Stadtgebiet von Süden nach Norden und in West-Ost-Richtung durchzogen. Über diese Verkehrsadern wurden Lebensmittel und Güter in die Stadt gepumpt. Für alle übrigen Straßen und Wegen hieß die Devise: wenn möglich, den Neuschnee beseitigen. Das galt auch für die Hausdächer. Einige waren schon unter den Schneelasten zusammengebrochen, von anderen hatten sich Dachlawinen gelöst.

Deshalb wurde die Zahl der Einsatzkräfte noch einmal erhöht und durch Soldaten der Bundeswehr verstärkt. Allerdings gab es kaum noch Unterbringungsmöglichkeiten, nachdem alle Schulen und sonstigen öffentlichen Gebäude belegt waren. Der OB hatte die Journalisten und Fernsehleute aufgefordert, ihre Hotelzimmer zu räumen, was sie mit dem Hinweis auf die Pressefreiheit und ihre Informationspflicht ablehnten. Einem Rudel Wölfe gleich, das Witterung aufgenommen hatte, pirschten sie weiterhin durch die eingeschneite Stadt auf der Suche nach Medienfutter. Beute gab es reichlich. So war es der Schnee, der den einen oder anderen Dortmunder ins Fernsehen brachte und für zehn Sekunden berühmt machte. Und die „Weiße Stadt“, eine Bezeichnung, die sich in Zeitungsüberschriften und Anmoderationen eingenistet hatte, wurde in aller Welt bekannt.

Herr K. hatte eine Vorstellung davon, was Ausnahmezustand bedeutet. Sie war zusammengesetzt aus Fernsehbildern über weit entfernte Katastrophen. Selbst erlebt hatte er noch keine. Das machte ihn unruhig, aber auch neugierig. Eigentlich war es ein gigantisches Experiment. Die Stadt war das Labor, die Natur bestimmte die Versuchsanordnung, die Dortmunder suchten, wie Ratten im Labyrinth, einen Ausweg. Und Herr K., der dabei war, als das Experiment mit einem rätselhaften gelben Licht begann, konnte beobachten, wie die Menschen mit dieser Situation umgingen. Zeit hatte er genug. Wie die meisten Einwohner, die in einer der Nachbarstädte arbeiteten, war er von seinem Arbeitgeber vorübergehend beurlaubt worden. Das könnte sonst teuer für uns werden, hatte sein Chef gesagt. Denn die Berufsgenossenschaften weigerten sich, die durch das Schneechaos verursachten Unfälle auf dem Weg zur Arbeitsstelle zu versichern. Viele Betriebe in Dortmund arbeiteten deswegen mit reduzierter Mannschaft, viele hatten geschlossen.

Von einem auf den anderen Tag hatte der Schnee über 150.000 Einwohner ihrer beruflichen Aufgaben entledigt. Und die meisten waren dem Aufruf des Oberbürgermeisters gefolgt. Tag für Tag bevölkerten sie die von Kristallmauern gesäumten Straßenfluchten, wo nur noch wenige Autos unterwegs waren, sie schoben und schaufelten, damit ihnen der Schnee nicht über den Kopf wuchs. Genau darum ging es, dachte Herr K., um einen Kompromiss, um ein Gleichgewicht, darum, die lebenswichtigen Funktionen des urbanen Organismus zu erhalten. Nicht immer konnte man verhindern, dass der Schnee eine Verkehrsader verstopfte. Doch meistens waren Lastkraftwagen mit Ladekränen rechtzeitig zur Stelle, um Teile der an den Straßenrändern liegenden Schneemassen abzutragen, die überall dort gelagert wurden, wo Platz war: auf Industriebrachen, Feldern, Grünanlagen, Deponien. So wuchs in Dortmund Meter um Meter eine winterliche Hügellandschaft aus dem Boden. Und es dauerte nicht lange, bis findige Geschäftsleute am Fuße dieser Hügel improvisierte Skihütten errichteten, in denen Speckbrot, Bratwurst, Käsegreiner und Almdudler gereicht wurden. Sehr zur Freude der Kinder übrigens, die sich von Anfang an mit dem Gegner verbündet hatten. Für sie bedeutete Ausnahmezustand: schulfrei, Schneeballschlachten, Schlitten fahren.

Auch Herr K. hatte sich, ob aus Langeweile oder Pflichtgefühl, als freiwilliger Helfer zur Verfügung gestellt. Da er in der Liebigstraße wohnte, war er der 5. Räumkolonne Kreuzviertel zugeteilt worden, der etwa 300 Männer und Frauen angehörten. Sie trafen sich morgens gegen 9.00 Uhr in einem Versorgungszelt auf dem Vinckeplatz, wechselten ein paar aufmunternde Worte bei Kaffee oder Tee und zogen dann in kleinen Gruppen los, um in ihrem Revier den Neuschnee von den Gehwegen und Straßen zu schieben. Jeder arbeitete, solange er konnte oder wollte, und niemand kam in diesen Tagen auf die Idee, dass dies nicht das Gleiche sei. Während der Arbeit oder in den Pausen kamen die Leute ins Gespräch. Anfangs ging es meist um das Wetter, das war naheliegend. Doch es dauerte nicht lange, bis selbst die Coolsten auftauten und etwas von sich erzählten.

Es war der vierte Tag vor Schnee, als Herr K. von einem breitschultrigen, leicht übergewichtigen Mann mit kantigem Gesicht angesprochen wurde, das ihn ein wenig an Ernest Borgnine erinnerte. Sie kannten sich vom Sehen, hatten sich zweimal mit einem leichten Kopfnicken freundlich gegrüßt. Er wirkte sympathisch, eher zurückhaltend. Herr K. war deshalb gänzlich unvorbereitet, die Lebensgeschichte dieses Mannes zu hören: Seine Ehe sei vor acht Jahren geschieden worden, ein Jahr vor der Silberhochzeit, die beiden Söhne damals 12 und 14, das sei schwer gewesen, seine Kinder nicht mehr jeden Tag zu sehen, aber aus beruflichen Gründen nicht anders möglich, jetzt waren sie fast erwachsen, beide studierten, der eine Elektrotechnik, der andere Lehramt, ja, auf seine Söhne sei er stolz, leider gebe es gerade in seinem Leben nicht viel, worauf sie stolz sein könnten, weil vor zwei Jahren, da habe er seinen gut bezahlten Job als Filialleiter bei Karstadt verloren, sie wissen ja, dass die Filiale in Dortmund geschlossen wurde, und mit Mitte Fünfzig in einer schrumpfenden Branche, seit einem Jahr lebe er von Hartz IV, nein, richtig leben kann man davon nicht, dafür hätte er jetzt Zeit für die Kinder, aber die brauchten ihn nicht mehr so wie früher, hätten ja ihr eigenes Leben und das sei gut so, aber er wolle nicht jammern, lieber nach vorne schauen, vor zwei Wochen habe er sich bei einem großen Autohaus in Recklinghausen beworben, die Zeitarbeitsfirma sei optimistisch, und wenn er den Job bekäme, dann würde er seinen Kindern im nächsten Jahr ein richtig großes Weihnachtsgeschenk machen. Und jetzt, da sie mich besser kennen, also ... ich heiße Fritz. Sven, entgegnete Herr K. und ergriff die ausgestreckte Hand. Und Sven, was machst du so, wenn du nicht Schnee schiebst?

Herr K. war auf die Frage gefasst. Normalerweise hatte er eine Antwort parat, die er quasi automatisch abspulen konnte. So fing er auch diesmal an: Er sei Physiker, habe nach dem Studium am Fraunhofer-Institut seine Doktorarbeit geschrieben, seit 2007 arbeite er als Projektleiter bei einem Mittelständler, der sich auf Automatisierungssysteme spezialisiert hat. Was genau er denn mache? Für diese Nachfrage hatte sich Herr K. eine Formulierung zurecht gelegt, die er witzig fand: Der Sinn seiner Arbeit bestehe darin, körperliche Arbeit anderer überflüssig zu machen, also gerade jetzt sei er dabei, ein intelligentes Lagersystem für Versandhäuser zu entwickeln, da holen Roboter die Waren aus den Regalen und verpacken sie in Kartons, das alles stecke noch in den Kinderschuhen, aber in fünf Jahren, wenn es gut läuft, da brauche Amazon keine Hilfsarbeiter mehr, die für Hungerlöhne im Akkord Waren einpacken. Ob er sich vorstellen könne, dass Menschen lieber schwer arbeiten als gar nicht? Ja, das könne er schon, der technische Fortschritt sei ein zweischneidiges Schwert, aber man dürfe nicht nur die kurzfristigen Folgen sehen, letztlich bringe es doch die Gesellschaft voran, wenn sich die Menschen auf anspruchsvolle Arbeiten konzentrieren können und die mühsamen von Maschinen erledigen lassen.

Kinder? Nein, Kinder habe er keine, vielleicht weil er nicht die richtige Frau getroffen habe, und jetzt, mit 41, sei es wohl zu spät. Doch das war nur die halbe Wahrheit, dachte Herr K. Er hatte die Richtige getroffen, da war er 20, verliebt bis über beide Ohren, glücklich, mit ihr hätte er Kinder haben wollen, irgendwann, nur jetzt nicht, das hatte er mehrfach gesagt, zuletzt mit 30, bevor sich ihre Wege trennten. Und dann, obwohl er so gut wie nie davon sprach und ohne erkennbaren Zusammenhang, erzählte Herr K. diesem wildfremden Mann mit dem Borgnine-Gesicht, dass seine Mutter vor sieben Jahren gestorben sei, eine großartige Frau, klug, lebensfroh, mit Sinn für Humor, sie habe als Produktgestalterin gearbeitet, sei nie ernsthaft krank gewesen, dann plötzlich in der Küche zusammengebrochen, Herzinfarkt, da sei sie 56 gewesen, und als Günther, sein Vater, spät abends vor seiner Tür gestanden habe, da habe er gewusst, was passiert ist, und sie hätten sich in den Arm genommen, zum letzten Mal. Seitdem sehe er seinen Vater nur noch selten, vielleicht zweimal im Jahr, meist an den Geburtstagen. Warum? Ja, warum eigentlich, überlegte Herr K.. Nach der Beerdigung habe er Günther ab und zu besucht, und jedes mal kam der Schmerz zurück, wuchtig, körperlich, unerträglich, und auch sein Vater habe sich in seine Werkstatt zurückgezogen, er sei KfZ-Meister, selbstständig, zwei Angestellte, als Kind sei er nach der Schule oft in der Werkstatt gewesen, mit sechs habe er zum ersten Mal Zündkerzen gewechselt, mit zehn einen Zylinderkopf ausgebaut, von Günther habe er früh gelernt, wie Maschinen funktionieren, daher wohl auch seine Begeisterung für Technik. Keine einfache Sache, die Liebe zwischen Vätern und Söhnen, sagte sein Gegenüber. Und jetzt lass uns noch ein bisschen arbeiten.

Zwei Stunden später waren die letzten Meter Neuschnee auf der Weißbachstraße beiseite geschoben, während die am Morgen geräumten Straßen schon wieder mit einer dünnen, flockigen Schneeschicht überzogen waren. Wahrlich eine Sisyphosarbeit, dachte Herr K., doch ohne sie wäre Dortmund bereits im Schnee versunken. Er verabschiedete sich von seinem neuen Bekannten, der vielleicht ein Freund werden könnte. Dann machte er, wie fast jeden Tag, einen kleinen Rundgang, der ihn die Kreuzstraße entlang und über die Hohe Straße zum Friedensplatz führte. Die Stadt hatte sich verändert. Überall auf den weißen, durch die seitlichen Schneedeiche verengten Straßen und Bürgersteige standen Leute zusammen und redeten. Statt Motorengeräusche waren Gesprächsfetzen zu vernehmen. Die Stadt war ruhig geworden, so ruhig, dass er aus der Ferne den Text eines Liedes hören konnte, gesungen zur Melodie der Moorsoldaten: „Wir sind die Schnee-ko-lon-ne, und schie-ben hier mit Won-ne, den Schnee.“ Herr K. musste lächeln. Er hatte sich immer vorgestellt, dass die Stadt den Menschen Schutz gibt. Jetzt waren es die Menschen, die die Stadt schützen mussten, und mit jedem Fleck, den sie mit einer kratzenden Schaufelbewegung vom Schnee befreiten, zumindest schien es ihm so, eroberten sie ein Stück ihrer Stadt zurück. Der Schnee knirschte unter seinen Schritten, als er auf den Friedenplatz einbog. In der Mitte stand ein großes Zelt, drum herum die spärlichen Reste des Weihnachtsmarktes, nachdem die meisten Schausteller zwei Tage nach dem Schneeeinbruch ihre Buden und Stände zusammengeklappt und die Stadt fluchtartig verlassen hatten. Herr K. vermisste sie nicht. Eigentlich hatte er diesen weitläufigen, über mehrere Straßen und Plätze verstreuten Weihnachtsmarkt nie richtig gemocht. Und dann die Megatanne, die passte einfach nicht zu Dortmund. Da fand er diese improvisierte Miniatur hier vor dem Rathaus allemal gemütlicher. Der Duft von Backfisch lag in der Luft, machte ihn hungrig. Er bestellte eine Erbsensuppe, und während er den grünen, mit Speck- und Bockwurststückchen versetzten Brei aus seiner Plastikschüssel löffelte, musste er an Günther denken, der Eintöpfe mochte. Vielleicht war es der Satz über die Liebe zwischen Vätern und Söhnen, vielleicht auch der kurze Gedanke, dass ein so flüchtiges Gebilde wie die Schneeflocke eine ganze Stadt erschüttern konnte, wie dem auch sei, jedenfalls fasste er in diesem Augenblick den Entschluss, Heiligabend nicht wie sonst allein oder mit Freunden zu verbringen.

Wieder zuhause, griff Herr K. zum Telefon und lud Günther zum Essen ein. Dann machte er es sich auf dem Sofa gemütlich, auf dem Tisch eine Tasse Kaffee, Lebkuchen und Weihnachtskekse. Wie jeden Tag seit dem 5. Dezember schaltete er den Fernseher ein und unternahm einen kleinen Streifzug durch die Sondersendungen und Talkshows. Denn immer noch war der Physiker in ihm überzeugt, dass sich das Phänomen wissenschaftlich begreifen ließe. Nach einer Stunde schaltete er enttäuscht aus. Wieder mal nichts Erhellendes. In der ersten Woche hatte sich in den Expertenrunden geballter Sachverstand versammelt. Meteorologen und Klimaforscher erklärten den Zuschauern, warum das Abschmelzen der arktischen Gletscher dazu führt, dass die Winter in Mitteleuropa kälter und schneereicher werden. Da es zwischenzeitlich in vielen Regionen Deutschlands schneite, schien alles wieder normal. Bis es überall wieder aufhörte, nur in Dortmund nicht. So stand man wieder am Anfang, nämlich vor der Frage: warum. Die Fachleute hatten keine Antwort. Und so blieb nach vielen hitzigen Diskussionen nur die blasse Hypothese übrig, dass die Wetteranomalie irgendwie mit dem Klimawandel zusammenhänge. Weil die Zahl der telegenen Experten begrenzt, die Zahl der auf allen Kanälen ausgestrahlten Beiträge über die „weiße Stadt“ aber in die hunderte ging, trat schon bald, wie Herr K. bei sich selbst feststellte, Ermüdung ein. Immer die gleichen Gesichter, die gleichen Argumente.

Als die Einschaltquoten sanken, holten die Programmdirektoren in der zweiten Woche andere Gestalten auf die Bühne: Verschwörungstheoretiker, Astrologen, Öko-Fundamentalisten, religiöse Eiferer, Propheten und andere Scharlatane. Zuerst saßen sie nur vereinzelt in den Talkshows, als schräger Ton im Gleichklang der Experten. Doch im Privatfernsehen übernahmen sie nach und nach das Ruder. Ein Panoptikum von Durchgeknallten, die sich, vernetzt in den einschlägigen Internetforen, gegenseitig befeuerten. Es war der Wahnsinn, aber unterhaltsam, dachte Herr K., der jetzt vor seinem Laptop saß und seine Lieblingsseiten durchblätterte. Klick. Fast eine Million Menschen hatten sich in nur zwei Tagen auf die Website STOPPT ENMOD geklickt. Dort war zu lesen, dass es sich bei dem Schneeinferno in Dortmund um ein missglücktes Experiment der Wetterkriegsführung handelte. Dahinter steckten natürlich die üblichen Verdächtigen – NATO, NSA, CIA. Als Zeuge hochgeladen in einem Video war der ehemalige Geheimdienst-Mitarbeiter Jack Crawford. Der wusste aus zuverlässiger Quelle zu berichten, dass der Hurrikan Katrina durch eine keineswegs unbeabsichtigte Wettermanipulation ausgelöst worden war, um aufkeimende Rassenunruhen in den südlichen US-Bundesstaaten zu ersticken. Klick. Ken Jebsen, der passionierte Verschwörungsenthüller, war zum Apokalyptiker mutiert, der das Ende des moralisch bankrotten Abendlandes herbeiredete. Klick. Wann genau das passieren würde, wussten die Zeugen Jehovas, die immerhin schon drei Weltuntergänge angekündigt hatten. Mit kabbalistischer Zahlenmystik hatten sie den Tag des Armageddon auf den 1. April 2016 datiert. Kein Scherz.

Herr K. hielt das alles für Humbug. Er glaubte nicht an eine höhere Gewalt, ob sie nun Gott hieß, Jehova oder NSA. Er glaubte nicht an eine gequälte Natur, die sich an ihren Ausbeutern rächt, auch wenn es die Menschen in den letzten 200 Jahren, wie er fand, etwas übertrieben hatten. Aber er glaubte an die Naturgesetze, an Ursache und Wirkung. Wenn er Recht hatte, dann war das gelbe Licht keine absonderliche Spielart eines Wetterleuchtens, wie die Meteorologen behaupteten. Dann war es die rätselhafte Ursache für den anhaltenden Schneefall. Solange die Wissenschaftler dies nicht in Betracht zogen, würden sie das Rätsel nicht lösen. Und alle Prognosen, dass in den nächsten Tagen eine Wetteränderung eintreten werde, waren bloß Kaffeesatzleserei. Nein, dachte Herr K., noch war es nicht vorbei. Doch diese Ahnung beunruhigte ihn nicht. Im Gegenteil, mit jedem verschneiten Tag wurde er ruhiger. Die Zeit verging jetzt schneller. Und dann erlebten die Dortmunder die weißeste Weihnacht, die je besungen wurde.

Herr K. hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um für Günther ein Taxi zu organisieren. Seinetwegen hatte er sich sogar nach einer Nordmanntanne erkundigt, obwohl er Weihnachtsdekoration überflüssig fand. Aber für einen Nadelbaum auf dem Schwarzmarkt 500 Euro hinzublättern, war für ihn nicht akzeptabel. Also hatte er einige völlig überteuerte Tannzweige besorgt, in eine Bodenvase gestellt und mit einer Lichterkette geschmückt. Zwei dicke, runde Kerzen auf dem gedeckten Tisch verströmten Zimtaroma. So viel Weihnachten war nie, dachte Herr K., der in der offenen Küche stand und gelegentlich an seinem Bordeaux nippte, während er das Essen zubereitete. Er kochte gern und, wenn er Freunde eingeladen hatte, meist aufwendige Gerichte. Dann wälzte er schon Tage vorher diverse Kochbücher, um seine Gäste zu überraschen. Für den heutigen Abend jedoch hatte er nicht lange überlegen müssen. Es gab Günthers Lieblingsgericht: Sauerbraten mit selbstgemachten Kartoffelklößen und Apfelmus. Doch anders als seine Mutter bevorzugte Herr K. die rheinische Variante.

Günther kam gegen 19.00 Uhr, dem festlichen Anlass entsprechend mit Hemd und Krawatte, darüber ein dezent kariertes braunes Sakko. Sieht gut aus, dachte Herr K., als er seinen Vater schnaufend die letzten zehn der 64 Stufen heraufkommen sah. Der Abend begann förmlich – mit einem Handschlag an der Tür, einem Schluck Sekt an der Küchentheke und einem kurzen Rundgang durch die Wohnung. Als sie zu ihrem Glas zurückkehrten, waren sie schon beim Wetter.

Der Schnee macht mir manchmal Angst. Was ist, wenn es nicht mehr aufhört, fragte Günther.

Dann ziehen wir alle nach Bochum, sagte Herr K. und verzog den Mund zu einem schelmischen Grinsen. Nein, im Ernst: Was irgendwann anfängt, hört auch irgendwann auf.

Ja irgendwann, aber was soll ich bis dahin machen. Seit drei Wochen hab ich kein Auto mehr in der Werkstatt gehabt. Jens und Manfred habe ich schon nach Hause geschickt.

Brauchst du Geld?

Nein, ich komm schon klar. Aber ich brauche Arbeit. Es hat mir immer Freude gemacht, Autos zu reparieren, na ja, meistens jedenfalls. Ohne meine Arbeit – da ist mein Leben nicht komplett. Das ist wie ... Sauerbraten ohne Klöße. Außerdem langweile ich mich und sitze zu oft vor der Glotze.

Geht mir auch so. Doch in den letzten beiden Wochen hab’ ich etwas Wichtiges gelernt: Ab und zu ist Langeweile nicht schlecht. Langeweile ist Zeit, die nicht verplant ist, überschüssige Zeit. Wenn man nicht versucht, sie zu vertreiben, wenn man sich mal treiben lässt in diesem Meer aus Langeweile, dann taucht manchmal eine Erinnerung auf oder ein neuer Gedanke.

Ich hab’ immer gedacht, du bist Physiker. Dabei sitzt hier ein Philosoph. Jetzt war es Günther, der grinste. Welche neuen Gedanken hattest du denn, fragte er interessiert.

Also erzählte Herr K. von dem ein oder anderen Gedanken, der ihm gekommen und durch den Kopf gegangen war. Und während er erzählte, trug er das Essen auf.

Das schmeckt lecker, sagte sein Vater kauend und schob ein soßengetränktes Stück Kartoffelkloß hinterher. Sind das Rosinen in der Soße?

Rosinen und Pumpernickel.

Wirklich gut, Junge. Das Kochen hast du von deiner Mutter. Sie war eine phantastische Köchin.

Fehlt sie dir?

Günther sah ihn an und schluckte. Ja, fast jeden Tag. Das erste Jahr war die Hölle. Und ohne die Werkstatt ... Weißt du, deine Mutter ist vor sieben Jahren gestorben. Aber noch heute, vor dem Einschlafen, sehe ich manchmal dieses Bild, wie sie auf dem Küchenfußboden liegt. Und dann denke ich, hätte ich diesen Scheiß-Kühler am nächsten Tag eingebaut, wäre ich zwei Stunden früher nach Hause gekommen ...

Die Ärzte haben gesagt, es war ein schwerer Herzinfarkt. Du hättest sie nicht retten können.

Das stimmt vielleicht, aber sie wäre nicht allein gestorben, presste Günther hervor.

Herr K. sah die Tränen, die sich zähflüssig in den Augenwinkeln sammelten wie schwarzes Gold an der Ablassschraube der Ölwanne, dann langsam die Nasiolabialfalten hinunterflossen und auf das weiße Tischtuch tropften, er sah das immer noch volle Haar, das in den letzten Jahren vom Melierten ins Graue gewechselt war, die kräftigen, von Werkstattarbeit gezeichneten Hände, die ihn hochgeworfen und aufgefangen hatten, als er noch ein kleiner Junge war, er sah das Alter, das angefangen hatte, die breiten Schultern dieses einmeterneunzig großen Hünen zusammenzudrücken, er sah den Mann, der vor 42 Jahren gewollt hatte, dass es ihn gab, ja er sah, zum ersten mal seit langer Zeit, seinen Vater.

Du bist nicht schuld an ihrem Tod, sagte Herr K.. Er zögerte kurz, dann legte er seine Hand auf die seines Vaters. Eine Weile saßen sie schweigend da. Erinnerst du dich an unseren Urlaub auf Lanzarote. Mama wollte unbedingt Hummer probieren ...

Es war ein Anfang. Die Erinnerung kehrte zurück von den Toten und wurde lebendig in den Geschichten, die sich beide abwechselnd erzählten. Zwei Flaschen Rotwein später, es war kurz vor Mitternacht, begleitete Herr K. seinen Vater ins Bett.
Schlaf gut, Papa. Du auch, mein Junge. Herr K. schloss leise die Tür, tappte ins Schlafzimmer und zog seinen Pyjama an. Als er den Rolladen schließen wollte, warf er einen letzten Blick nach draußen und stutzte: Es hatte aufgehört zu schneien. Er wartete darauf, einen weithin hörbaren Freudenschrei auszustoßen, doch nichts passierte. Ungläubig schaute er auf den Himmel, an dem sich die letzten Wolken verzogen und hier und da ein Stern leuchtete. Es würde Wochen dauern, bis wieder Ordnung herrschte. Doch schnell würde die Normalität zurückkehren. Die Menschen würden wieder ihrer Arbeit nachgehen, die Regale in den Supermärkten und Kaufhäusern wieder prall gefüllt sein, und zu Weihnachten würde wieder die Megatanne leuchten. Das alles würde geschehen. Doch er wünschte sich, dass dieser Ausnahmezustand nicht spurlos an der Stadt und ihren Menschen vorbeigehen würde.

Ein seltsamer Heiligabend, dachte Herr K., traurig und tröstlich zugleich. Mit diesem Gedanken fiel er in einen tiefen Schlaf. Er fällt und fällt, bis er in gleißendes Licht getaucht etwa fünf Meter über dem Rasen des Westfalenstadions schwebt. Wie geil ist das denn, jubiliert Herr K., dem eine solche Redewendung nur im Traum einfällt. Ob er ein Kameraauge hat oder der Fußballgott persönlich ist, weiß er nicht. Jedenfalls kann er seine Position blitzschnell verändern: zoomen, schwenken, rauf und runter. So ist der Fan ganz nah bei seiner Mannschaft im Duell gegen die Bayern. Auf der Anzeigentafel blinkt die 86. Minute. Es steht eins zu eins. Moment mal, denkt Herr K., das Spiel hab’ ich gesehen, das späte Spiel am 5. Dezember. Egal. Schwarz-Gelb startet die Schlussoffensive, presst früh am gegnerischen Strafraum und provoziert einen Fehlpass, den Gündogan kurz vor der Mittellinie abfängt. Mit einem hasengleichen Hakenschlag lässt er Martinez stehen, läuft vorwärts, schaut und fackelt nicht lange. Ein genialer flacher Pass über 25 Meter in den Laufweg von Reus, der heute wieder Weltklasse spielt und den Ball vor dem Sechzehner elegant mitnimmt. Mit einem explosiven Sprint zieht er links am Innenverteidiger vorbei, treibt den Ball fast bis zur Toraus-Linie und spielt ihn dann in den Rücken der Abwehr genau dorthin, wo der heranstürmende Mkhitaryan eine Sekunde später auftaucht und mit links einfach abzieht. Einige Borussen können nicht hinsehen, schließen die Augen. Und so entgeht ihnen, wie der Ball in der 89. Minute mit der Präzision eines Hohlmantelgeschosses unhaltbar ins linke obere Toreck fliegt.

Augenblicklich bricht unbeschreiblicher Jubel aus, allerdings mit einem krassen Nord-Süd-Gefälle. Der Bayern-Block sitzt wie versteinert, die Gelbe Wand tobt. 50.000 Arme fliegen in die Luft oder umarmen den Nachbarn. 50.000 Füße springen hoch und landen mit dem Sound eines Doppel-Bass-Schlagzeugs auf dem Boden, immer wieder, bis der Beat den Beton ins Schwingen bringt. Zu diesem Rhythmus die Fangesänge und ein erlösendes JAAAAAAA, als der Schiedsrichter in der 93. Minute abpfeift. In diesem Moment passiert es: Im schwarz-gelben Hexenkessel verwandeln sich Freude und Hingabe in pure Energie. Für unseren Träumer sieht es so aus, als ob glitzernder Blütenstaub aus dem Fahnenmeer aufsteigt, sich hier und da verdichtet und mit wechselnder Gestalt dem Himmel entgegenschwebt. Der fliegende Teppich wird zum Stern, aus dem Stern ein UFO, das tatsächlich einer Untertasse gleicht, bis sich die Ränder nach oben wölben und aus den mikroskopisch kleinen Teilchen ein riesiges Energieei entsteht. Es steigt höher und höher, durchstößt die Wolkenschicht und gleitet aus der Atmosphäre ins stille All, wo es wie das Sternenkind aus 2001 staunend auf den blauen Planeten blickt. Was geschieht hier, fragt sich Herr K. ohne Angst, der sich plötzlich im Inneren des Ovals befindet, in dem es zuckt und pulsiert. Und dann, mit einem grellen, gewaltigen Blitz, der sich zickzackartig durch die Mitte zieht, bricht das Ei auseinander. Das ist es, schreit Herr K. in die wirbelnden Winde hinaus, das Ei des Kolumbus. Und so träumte Herr K. in der Weihnachtsnacht des Jahres 2015 des Rätsels Lösung. Ja mehr noch, er träumte von einer Geburt. Der Geburt seiner Geschichte.